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Form aus Bewegung

Ich muss ja zugeben, dass ich hin und wieder sog. "Muckermagazine" lese; zumeist aus purem Zeitvertreib. So gesehen erfüllen sie also den gleichen Zweck wie die "Gala" meiner Liebsten, denn bedauerlicherweise haben die meisten Musiker ähnlich viel zu zu erzählen wie Sportler. Gestern habe ich jedoch in der aktuellen Ausgabe von "Drums & Percussion" ein Interview mit dem mir bislang unbekannten Vibraphonisten Christopher Dell gelesen, dass - wenn auch aus anderer Perspektive - ein paar Gedanken widerspiegelt, die mir vor kurzem beim Hören alter Miles-Davis-Platten gekommen sind:

D&P: "Truth Study" [ein aktuelles Album seiner Band D.R.A.] geht ja in ihrem Ansatz auf die Rhythmusanalyse des französischen Philosophen Henri Lefèbvre zurück, welche seiner Meinung nach irgendwann die Psychoanalyse ablösen soll, und setzt sich ganz klar mit Wahrheitsfindung auseinander. Was bedeutet Wahrheite für Dich?

Dell: Ich will es mal im musikalischen Kontext ausdrücken: Wir in unserem Kulturkreis denken ja immer, dass Bewegung aus der Form kommt - wie bei Platon: Es gibt eine Gundidee, eine universelle Form, und wir versuchen, dieser gerecht zu werden. Manchmal klappt's, manchmal klappt's nicht. So ist ja auch eine Komposition in der Musik angelegt: Es gibt einen Autor, der sich alles ausdenkt, und man versucht als Spieler, dieser Komposition gerecht zu werden und weiss, dass es in der Zeit, in der es passiert, auch irgendwie funktionieren wird.

Der Jazz fußt nun hingegen in einem ganz anderen Prinzip: Man hält die Form so minimal wie möglich und glaubt daran, dass das, was 'den Jazz', die Form, ausmacht, aus der Bewegung entsteht. [...] Dieser Ansatz scheint nun ersteinmal lediglich in der Musik zu funktionieren, und viele Leute behaupten auch, das es Quatsch sein, das auf das Leben an sich zu übertragen. Ich persönlich merke aber immer mehr, das wir in unserer Gesellschaft so viel Inkohärenz haben, gerade, weil wir nicht glauben wollen oder nicht in der Lage sind, zu verstehen, dass es die Möglichkeit gibt, dass Form aus Bewegung entsteht.

Daher gibt es Überhänge: Es wird auf der einen Seite immer Flexibilisierung gepredigt, aber andererseits sichern sich die Leute, die das Predigen, so sehr ab, dass sie nie und nimmer in Schwierigkeiten kommen. Andere Leute, die nicht die Möglichkeit dazu haben - dass muss man nämlich lernen -, werden nun als Ich-AGs da rein geschickt, sind natürlich total verloren, haben Angst - und wählen Nazis. So ist das doch leider! Junge Menschen spüren diese Möglichkeit, wollen eigentlich ihren Job gar nicht abreißen, brauchen aber eine Grundsicherheit, auf der man alles Weitere zumindest formal machen kann. Eine Minimalstruktur - die aber nicht gegeben wird.

Man kämpft sich also ständig dagegen ab, muss gleichzeitig abends die Eltern, die sich noch in dem alten Modell bewegen, anrufen, sagen, dass das alles schon werden wird, und sich trotzdem ein Modell improvisieren, in dem man das alles macht. Da will ich mal wieder Rudi Völler zitieren, denn es geht nicht darum, etwas zu müssen, sondern etwas zu dürfen: Das Dürfen ist eine Chance!

Das möchte ich jetzt nicht FDP-mäßig verbrämen, aber wir sollten uns eine Bewegung in Kleingruppen oder wie auch immer schaffen, um uns gegenseitig zu unterstützen. Alleine werden wir es nämlich nicht schaffen - Ich-AGs sind Bullshit! Wir sind zwar total individualisiert, aber gleichzeitig bewegen wir uns eben ständig auf einer Massenoberfläche, die uns entrückt von dem, was wir eigentlich selber sind.

Aber es geht darum, seine Individualität in einem Zusammenspiel mit Freunden oder Gleichgesinnten zu finden. Das alles steckt für mich nun im Jazz und in dem ganzen Überbau des Lebens, der sogenannten Wahrheit, drin: Man muss kein Ideal suchen, sondern einfach nur genau hinschauen, was sich aus dem Leben selbst - als Bewegung - ergeben kann, und dann muss ich schauen, wie dabei die Rhythmen sind.

Genau das hat Lefèbvre nun erkannt: Es geht nicht mehr um gewisse Räume und Regionen, um gewisse Pläne, die verschaltet sind, sondern um Rythmen, darum, dass wir annehmen, das unser Handeln strukturierend wirkt.

Das klingt ja erstmal hanebüchen, aber wenn wir darüber nachdenken, heisst es doch, dass wir an sich ganz selten darauf vertrauen, das unser Handeln die Zeit strukturiert. Darum geht's aber. Dieses Vertrauen muss man entwickeln. [...] Wie Joseph Beuys das mit dem erweiterten Kunstbegriff gemacht hat, so ist das für mich eben der erweiterte Musikbegriff. Das klingt jetzt alles ziemlich abgehoben und abstrakt, aber gerade die jungen Leute merken doch zumindest unbewusst, um was es geht, in wie vielen polyrhythmischen Schichte sie im urbanen Leben so verschaltet sind. Das macht auf der einen Seite Spass, ist aber andererseits auch wahnsinnig anstrengend. Mit diesem Druck musst Du umgehen lernen und Dich organisieren, um die darin steckende Energie zu erleben und positiv umsetzen zu können."

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Vielleicht ist es mit dem Christentum ja genauso: Die Form war da (als Gottes Wort), und alle Bewegung konnte nur als von der Form authorisiert passieren. Da die Postmoderne aber erkannt hat, dass es es eine allgemeingültige Interpretation grosser Teile der Bibel nicht geben kann, sollte man überlegen, in wie weit das Handeln selber eine Form hervorbringt. Das schliesst auch an die "Little Theologies" von Karen Ward (nachzulesen in dem Band "Listening to the Beliefs of Emerging Churches") und überhaupt an die Betonung der Orthopraxie in der Emerging Conversation an.

Haso hatte ja vor einiger Zeit das schöne Beispiel, dass das Wort Gottes quasi die Partitur sei, und wir die Spieler, die es in immer neuen Kontexten zum Leben erwecken. Vielleicht muss man das aber noch viel radikaler sehen und der Übergang von der Moderne zur Postmoderne gleicht eher einem Übergang von der Klassik zum Jazz: Es gibt keine Partitur, sondern nur die Improvisation. Die Grundlage, 'der Jazz' ist der Geist Gottes, aus dem wir leben und der eine Minimalform bildet und gleichzeitig doch so immens gross ist (Siehe auch Peter Rollins Konzept der Hypernymität). Und da wir quasi gezwungen sind, Cluster (z.B. Gemeinden) zu bilden, müssen wir zuhören und erkennen, nach welchen Rhythmen sich die anderen bewegen und wie man da einsteigen kann - oder eben nicht.

Und Gottes Geist wirkt eben nicht nur in der Kiche, wir könnten sehen, wo es andere interessante Rhythmen gibt, mit denen man sich vernetzen kann, was wiederum neue Formen hervorbringt. Diese Formen müssen dann auch nicht automatisch von Dauer sein, sondern dürfen eher zweckgebunden funktionieren. In wie weit das von Nachteil ist, wird man sehen müssen.

Das ist natürlich eine völlig radikale und individualisierte Abkehr von einem traditionellen Kirchenverständnis, aber es könnte ein Weg sein, in der Postmoderne mit Gott zu leben.
Tinosoph - 3. Sep, 01:25

sehr interessant!
das sind überlegungen, mit denen selbst viele musikwissenschaftler noch probleme haben.
dabei ist das eigentlich gar nicht so radikal, weltgeschichtlich gesehen. die westliche kunstmusik ist ja ein zeitlich und räumlich ziemlich beschränktes phänomen. hm, nur sind wir eben gerade in dieses phänomen rein geboren worden.

kennst du die "schöpfungsgeschichte" in tolkiens silmarillion? da gibt eru iluvatar (also quasi gott) ein thema, eine melodie vor, und aus diesem thema kreieren die "engel" dann einen vielstimmigen gesang nach allen regeln der kunst.
später gibt's noch ein paar zwischenfälle, aber grundsätzlich entsteht die welt aus diesem und den folgenden themen.

goto

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